Wandertag. Showtime für jeden guten Familienvater. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen, oder, wie man heute sagt: „separates boys from men“!
Die Kinder brauchen mehr Auslauf, die Frau auch. Mir könnte es auch nicht schaden, wenn der Wohlstandsring etwas in seine Schranken verwiesen wird, aber was soll’s. Der deutsche Hirsch wächst in der Mitte! Immerhin mal neue Wanderschuhe gekauft.
So. Als einzig Ortskundiger gleich mal den Rheingau ausgewählt. Das Kartenmaterial zu finden, damit man seinen Lieben die beste Route liefern kann, dauert kaum eine viertel Stunde. Bei meiner Rückkehr vom Suchen allerdings hat sich die Stimmung bereits gewandelt. Von gelangweilt zu genervt.
Kind 1: „Ich hab keine Lust.“
Kind 2: „Müssen wir da mit?“
Kind drei gluckst fröhlich, sie hat keine Ahnung, was sie erwartet. Ich allerdings auch nicht.
Ein paar Motivationssätze rausgehauen – „Na kommt schon.“, „Das wird lustig.“, „Wir fahren in einen Wald, da habt ihr bestimmt Spaß.“ – Von der Rückbank eisiges Schweigen.
Anfahrt klappt, Parkplatz gefunden, Rucksäcke aus dem Auto und …
„Ich hab keine Lust, einen Rucksack zu tragen“, sagt der Große und zieht los.
Moment. „Nicht da lang. Ich will den anderen Weg gehen.“
„Nein. Ich will diesen Weg gehen.“
„Kennst du den denn?“
„Kennst du den anderen Weg?“
Er scheint mein Nein bereits aus meinem Gesicht zu lesen, dreht sich um und geht weiter. Ich stopfe hastig alle Rucksäcke in das Ablagefach des Kinderwagens, wuchte ihn aus dem Auto,werfe die Kleine hinein und eile, die Mittlere antreibend, hinterher.
Egal. If you can’t beat them, lead them. Ich lege einen Zahn zu, lasse die Mittlere bei meiner Frau zurück und renne über Stock und Stein förmlich an ihm vorbei, während die Kleine im Kinderwagen herumgeworfen wird wie eine Flipperkugel.
Und das völlig unnötig, wie ich wenige Sekunden später feststellen muss. Denn gerade als ich ihn überhole, hat ein nur mäßig runder Stein auf dem Boden seine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er stoppt abrupt, um die nächsten sechseinhalb Minuten diesen einen Stein zu erkunden. Ich versuche, aus inzwischen hundert Meter Entfernung die Herde wieder zu vereinen. Mein Geschrei vertreibt ein paar Vögel aus den umliegenden Bäumen, sonst passiert nichts.
Irgendwann haben sich alle wieder zusammen gefunden und tapsen hinter mir her. Meine Schuhe drücken. An einer Gabelung kann ich unbemerkt auf den von mir geplanten Weg wechseln. Der geht nun leicht bergauf, zwischen Tannen und Laubbäumen bricht gleisendes Sonnenlicht auf den Boden und lässt taufeuchte Farne und vermooste Baumstümpfe glitzern.
„Wann machen wir endlich Pause?“
„Pause? Wir sind gerade zehn Minuten unterwegs.“
„Und wie lange dauert das noch?“
„Die ganze Strecke? Zwei Stunden. Allerdings nicht, wenn ihr weiter …“
„Ooooh nein.“
„Waaaaaas? Das ist zu lang“.
„Ich will jetzt Pause machen.“
Meine Frau hat auch Hunger, und schon bin ich wieder in der Defensive.
„Na gut, nur noch um die Kurve, und dann suchen wir uns ein hübsches Plätzchen.“
Gegen heftigen Widerstand treibe ich die Meute hundert Meter, dann kann ich in letzter Sekunde einen umgestürzten Baumstamm als Rastplatz vorschlagen, bevor sich alle Teilnehmer unter zehn Jahren in die Totalverweigerung verabschieden.
Wir sitzen kaum fünf Minuten, da rennt der gerade noch völlig erschöpfte Große los.
„Da hinten sehe ich etwas. Das muss ich erkunden.“ Weg ist er. Und die Mittlere rennt hinterher.
„Nicht so weit, wir wollen gleich weiter“, rufe ich noch. Ich kann nicht mal erkennen, ob sich ihr Tempo verlangsamt.
Meine Frau macht sich derweil auf den Weg, wir haben ja noch ein gutes Stück Weg vor uns. Ich rufe noch mal nach den beiden, dann folge ich meiner Frau mit dem Baby.
Kaum eine Minute später verschwindet sie hinter einer Biegung, von meinen zurück gebliebenen Kindern immer noch keine Spur. Ich rufe in den Wald, doch nichts schallt zurück. Sonntag mittag, ich stehe mitten im Rheingau und bin allein. Meine Füße schmerzen.
Nach einer viertel Stunde höre ich Schreie, angsterfüllt. Sie kommen näher, immerhin, und so rufe ich schnell zurück.
Als sie aufschließen, schlägt mir blanker Hass entgegen.
„Wieso wartet ihr nicht auf uns?“
„Ich habe doch gewartet.“
„Aber nicht am Rastplatz.“
„Ja, weil ich gesagt hatte, dass wir gleich weiter wollen.“
„Hast du nicht!“
„Hab ich do…“
„Wo ist Mama?“
„Weiter vorne.“ Und schon schießen die beiden weg.
Als ich alle einhole, schlängelt sich der Weg bereits in Serpentinen auf eine noch nicht mal sichtbare Anhöhe. Meine Frau schaut mich immer häufiger zweifelnd an: „Ist das hier wirklich der richtige Weg?“.
Jetzt nur keine Zweifel aufkommen lassen. Ein Kind auf dem Arm, den Kinderwagen über Wurzeln rammend, treibe ich die beiden Großen vor mir her und verfluche heimlich mein Kartenmaterial. Meine Füße brennen. Oben lasse ich mir unbemerkt von Google Maps helfen.
„Da entlang“, zeige ich auf einen hübschen grasbewachsenen Weg, der sowohl abwärts, als auch Richtung Parkplatz führt.
Doch kaum sind wir weit genug weg vom Gipfel, als das es sich lohnte, umzukehren, verwandelt er sich in eine grüne Hölle.
Ich drücke den Mini schützend an meine Brust, während Zweige von links und rechts durch unsere Gesichter peitschen. „Das wird sicher gleich besser“, mache ich mir laut Mut.
Wird es nicht.
Im Gegenteil.
Nun liegt auch noch der Boden voller dicker Äste, sodass meine Frau den Kinderwagen tragen muss. Doch selbst dieser alte Wirtschaftspfad verliert sich kurz darauf. Im Nichts. Wir stehen mitten im Wald, zwischen alten Bäumen und jungen Schößlingen. Zurück hieße hunderte Meter bergauf übers Kleinholz, in allen anderen Richtungen kein Pfad in Sicht. Allein Google ist immer noch der Meinung, dass es sich um einen Weg handelt.
Durchhalten. An meinen Füßen lösen sich Hautlappen.
In einigen hundert Metern zeigt Maps einen querenden Hauptweg. Also einfach gradeaus. Ich stampfe voran: „Hier gehts lang“, und bete, dass der Hauptweg hält, was Google verspricht.
Die Kinder sind kurz vor der Apathie. Wenn von ihnen noch Lebenszeichen kommen, dann sind es Vorwürfe. Meine Frau deeskaliert, indem sie schweigt. Die Bäume stehen still, sie schämen sich für uns, wie wir orientierungslos zwischen ihnen durchstolpern. Dann endlich: Licht. Vor uns der Weg. Uns trennt nur noch ein Graben und ein Brombeergestrüpp von der Zivilisation.
Ich kämpfe mich geradeaus, drücke mit Armen und Beinen Dornen weg, bis ich nicht mehr weiterkomme. Bei dem Versuch, mich umzudrehen, verheddert sich meine Hose und ich stürze in die Beeren. In meinen Schuhen schwappt Blut.
Vom Weg höre ich Lachen.
„Paaapa, komm endlich.“
„Zwei Meter weiter links ist ein Pfad“, sekundiert meine Frau.
„Mama, ich geh niiiiiiie mehr Wandern“. Meine Frau nickt.
Sein und Lassen
Vom Leben im Annahmezustand