Julien Barnes: Der Lärm der Zeit

Ist es verwerflich, wenn man sich der Macht beugt, um weiterhin künstlerisch arbeiten zu können?
Diese Frage stellt bereits der Rückentext, insofern ist es kein Spoiler, wenn man sie als zentrale Frage des Romans formuliert.
In seinem Nachwort schreibt der Autor Julian Barnes, was er alles zur Recherche über seine Hauptfigur Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch heran gezogen hat. Aber auch, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich für seinen Roman darüber hinweg gesetzt hat. Man kann keinen Roman schreiben, wenn man sich einer vortextlichen Wirklichkeit sklavisch verpflichtet fühlt.
Insofern ist Barnes‘ Roman natürlich keine Biographie, aber man bekommt einen Eindruck der Verhältnisse, in denen Schostakowitsch gelebt und komponiert hat.

Schostakowitsch, einer der berühmtesten russischen Komponisten und unter Musikkennern als einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts anerkannt, lebte im Russland des sogenannten Kommunismus. So war sein Schaffen von Beginn an dem Zugriff „der Macht“ ausgesetzt. Gefiel eines seiner Werke der Obrigkeit, wurde er gefeiert, gefiel es nicht, konnte es sein Todesurteil sein.
Ungefährlich zu leben war nur möglich, wenn Stalin einen nicht kannte, so schreibt Barnes. Kannte Stalin einen, bedeutete das bereits Gefahr, und ein einziger Blick von Stalin ließ Erwachsene in die Hose machen, was niemand übel nahm.
Und dieser Stalin verließ dann wortlos eine Aufführung einer bereits erfolgreichen Oper des Komponisten – eigentlich ein Todesurteil. Aber Schostakowitsch wird nicht ermordet, „viel schlimmer, sie ließen ihn leben“.

Um ihn erst widerrufen zu lassen, dann sich unterzuordnen, der Partei anzuschließen und ihn dann als Galionsfigur des Sozialismus auszubeuten. Und an diesem Widerruf, an diesem erzwungenen Zugeständnis, an diesem Verrat an sich selbst leidet Schostakowitsch den Rest seines Lebens.

Barnes erzählt hauptsächlich chronologisch, greift vor, blickt zurück und verwebt die einzelnen Stationen in Schostakowitschs Leben zu einer Geschichte der Verunsichertheit. Über dessen Entscheidungen (seine Ehen), dessen Haltung zu seinem Heimatland und die Haltung „der Macht“ zu ihm.

Wie tiefgreifend dies sein Leben verändert, wird spürbar, wenn Schostakowitsch über Monate mit gepacktem Koffer am Aufzug schläft, weil er fest mit seiner Verhaftung rechnet und den Anblick seiner Familie ersparen will. Barnes erzählt aber auch diese Passagen mit humorgespeister Leichtigkeit und bisweilen viel Ironie, die er auch bei Schostakowitsch findet: Ironie als Überlebenstaktik, als Selbstverteidigung.

So wird im Leben eines der größten Komponisten das Leben im Sozialismus erlebbar, das nicht selbstverständliche Überleben in einer Diktatur, das Durchhalten unter widrigsten Umständen, und die Liebe zur Musik im Lärm der Zeit.

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